„Das Märchen gibt Welt, die Sage Heimat.“

(Lutz Röhrich)

Der Westen Europas ist bekannt für seine steinzeitlichen Bauwerke wie Stonehenge in Großbritannien oder Carnac in Frankreich. Doch ist eine lange Reise nicht nötig, um solche Relikte vergangener Zeiten zu besuchen. Fährt man aufmerksam durch die Landschaft, entdeckt man stehende Steine oder alte Burgwallanlagen, denn auch in mitteldeutschen Regionen finden sich solche besonderen Orte. Ihre Bedeutungen haben sich über die Jahrtausende zum Teil erhalten und spiegeln sich in Bräuchen, Aberglauben und vor allem alten Geschichten wider.

Frau Sage erzählt

Man kennt sie vielleicht aus dem Schulunterricht oder aus der ein oder anderen Stadtführung. Im Alltag begegnet uns diese Form der Volksliteratur nur selten. Dennoch ist jede Region und jede Stadt durchwoben und verknüpft mit alten Geschichten und Begebenheiten, die Unerklärliches erklären und vergangene Zeiten zum Leben erwecken. Es ist nicht mehr selbstverständlich sich mit diesen Sagen zu beschäftigen. Sie gelten als staubig und alt, nicht mehr nachvollziehbar und überholt. Und dennoch kennt jeder Hallenser die Sage von der Entstehung der Stadt. So soll sich ein Schwein in einer Pfütze gesuhlt haben und nach dem Verdunsten des Wassers blieben Salzkristalle an den Haaren hängen. Die Menschen sollen so auf die Sole aufmerksam geworden sein und entwickelten Techniken zur Salzgewinnung. Damit siedlten sich immer mehr Menschen um die Solequellen an und die Stadt an der Saale entstand, das erzählt die Sage. Sagen schaffen einen individuellen Bezug zu den Gegebenheiten vor Ort. Sie erklären, wie die Steinerne Jungfrau am Rand von Dölau dorthin kam oder was die Abdrücke auf dem Hunnenstein in Bad Dürrenberg bedeuten. Sie erzählen von Versteinerungen als Strafe für schlechtes Verhalten oder warnen vor bösartigen Wasserwesen.

Sagen und ihre Orte

In der Region um Halle gibt es eine Vielzahl an solchen Geschichten. In ihnen kommen Nixen und Drachen, Teufel und Mönche, weiße Frauen und schwarze Ritter vor. Zu einigen Geschichten können die Handlungsorte zugeordnet werden, zu anderen nicht. Sagenumwoben – Orte und ihre Sagen in Halle und Umgebung bietet daher eine Übersicht über solche Sagen, zu denen der passende Ort noch existiert, und einen Ausgangspunkt für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema. In der folgenden Karte sind fünfzig Orte aufgelistet und mit Hilfe der Kategorien Flüsse und Seen (blau), Wiesen und Hügel (grün) und Steine und Felsen (braun) genauer aufgeschlüsselt. Für jeden Ort wird die dazugehörige Sage kurz nacherzählt. Eine engere Auswahl von sieben Sagen der Regionen Halle (Saale) und Saalekreis, mit roten Sternen in der Karte gekennzeichnet, wird mit dem Webprojekt näher vorgestellt. Fotografien, Ortsbeschreibungen und Videos geben einen ersten Eindruck dieser besonderen Orte. Wer sich mit ihnen näher beschäftigt, stellt bald fest, dass nicht nur literatisch und volkskundlich Interessierte einen Bezug zu Sagen haben. Daher fügen Interviews mit Experten verschiedener Fachbereiche andere Aspekte dem Thema hinzu. Zusätzlich sollen Koordinaten und sogenannte Geocachingpunkte dazu anregen, die Landschaft zu erkunden. So vielfältig die Geschichten sind, so unterschiedlich sind auch die Wege mit ihnen in Berührung zu kommen.

 

Sage ist nicht gleich Märchen

Märchen und Sagen werden umgangssprachlicht oft synonym verwendet, doch das ist bei genauerer Betrachtung nicht richtig. Es gibt deutliche Unterschiede zwischen beiden Gattungen der Volksliteratur.

Eine Sage soll vor allem geglaubt werden. Als Teil der mündlichen Erzähltradition besteht ihre Aufgabe darin, zu belehren, vor Gefahren zu warnen oder seltsame Phänomene zu erklären. Dabei bezieht sie sich auf Jahreszahlen, auf reale Orte und Personen und handelt von Menschen des Alltags ihrer Entstehungszeit. Da ist der Fischersohn, der Bauer, der Richter oder die Magd. Durch die konkreten Daten wie Jahreszahlen und Orte wird hier zum einen ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit vorgegeben, zum anderen baut sich dadurch ein starker regionaler Bezug auf. Sagen sind immer ortsgebunden. Sie erzählen von genau dem Stein, dem Haus oder der Straße, von dem  Fluss oder der bestimmten Person. Sie tragen daher maßgeblich zur regionalen Identität bei.

Im Gegensatz dazu eröffnet sich im Märchen eine völlig andere Welt, eine Welt, die nicht in Frage gestellt wird. Beispielsweise gelangt man zu Frau Holle über den Brunnen und landet im Himmel. Zauberisches und Magisches faszinieren hier und helfen dem Helden seinen Weg zu finden. Dem Märchen fehlt der genaue Ort- und Raumbezug oder eine Zeitangabe. Diese sind für die Geschichte nicht wichtig. Den hier steht die Heldenreise im Mittelpunkt, das Lösen von Rätseln und das Befreien der Jungfrau.